Noch beständiger als die politischen waren die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie sich seit etwa 1100 herausgebildet hatten. Lebensformen und Lebensbedingungen der Appenheimer entsprachen ganz dem „Feudalzeitalter“, wie man das Mittelalter auch nennt, und es ist sicher interessant, einmal dem Alltag im Appenheim dieser Zeit nachzugehen.
Wie sah unser Dorf damals aus? Von weitem wird das Ortsbild einen ähnlichen Eindruck wie heute gemacht haben: ein Haufendorf, dessen Kern sich um die (jetzt evangelische) Pfarrkirche scharte.
Diese Kirche war ein romanischer oder gotischer Bau und hatte – wie wir aus späteren Beschreibungen wissen – einen auffallenden Turm. Auf dem Kirchhof stand noch eine Kapelle, die als „Beinhaus“ für die Knochen aus aufgelassenen Gräbern diente. Wie viele rheinhessischen Kirchhöfe war auch der in Appenheim befestigt; eine fast zwei Meter dicke Mauer, wohl mit Schießscharten, Laufgängen und kleinen Türmen versehen, umgab den Friedhof. Hier konnten die Appenheimer bei den recht häufigen Kleinkriegen der Adligen und Landesherrn, den „Fehden“, Zuflucht suchen. Einen gewissen Schutz vor ungebetenen Eindringlingen bot außerdem die Ortsbefestigung. Rings um das Dorf zog sich ein Graben mit einem Wall, der mit Hecken dicht bepflanzt war und an der Südostseite noch durch die Wethbach verstärkt wurde.
Drei hölzerne Tore (am Ende der Obergasse sowie an den Ortsausgängen nach Gau-Algesheim und Niederhilbersheim) konnten notfalls verschlossen und die Brücke über die Wethbach hochgezogen werden. Die Abschirmung nach außen zeigen auch heute noch die vielfach fensterlosen Rückwände der Gehöfte, die am (alten) Ortsrand liegen. Mehr einen Sichtschutz boten die hohen Ulmen, die den Ort an der Nordostseite umgaben; es waren schließlich über 80 solcher „Effen“, die die Appenheimer den neugierigen Blicken vom Westerberg entzogen. Innerhalb dieser Befestigung war das Dorf wesentlich lockerer bebaut als heute, scheinen sich schon die ältesten Bauernhöfe zunächst um die Pfarrkirche geschart zu haben, während die Obergasse wohl eine spätere Erweiterung in Form eines „Straßendorfes“ ist. Typisch war auch, daß es außer dem Straßenkreuz von Ober- bzw. Niedergasse und Hauptstraße ursprünglich fast nur Sackgassen gab, was fremden Eindringlingen ein rasches Entkommen erschweren sollte.
Die alte Appenheimer Bauweise läßt sich heute noch am Grundriß mancher Hofraite erkennen: Es ist das bekannte fränkische Gehöft mit seinem großen, zur Straße gelegenen Tor und einer hufeisenförmigen Hofanlage (Wohnbau, Stall und Scheune). Gedeckt waren auch die Appenheimer Häuser mit einheimischem Material wie Ziegeln oder Schindeln; nur die wichtigeren Bauten – wie Kirche oder Pfarrhaus – besaßen vielleicht ein Schieferdach. Die Dächer hatten sicher alle die in Rheinhessen so weit verbreitete Form des „Krüppelwalmdaches“, wie es heute noch am Rathaus und am Pfarrhaus zu sehen ist. Die meisten Häuser waren aus Stein errichtet. Fachwerk war selten, schon deshalb, weil es in der Gemarkung so gut wie keinen Wald gab und Appenheim – im Gegensatz zu manchen Nachbargemeinden – im vorderen Hunsrück kein „Beholzigungsecht“ besaß.
Für viel Geld mußte man das Holz von dort einführen, was vermutlich auf dem heute noch vorhandenen „Holzweg“ geschah, der genau in Richtung auf die ergiebigen Wälder zwischen Bingen und Stromberg führte. Die Holzarmut der kurpfälzischen Dörfer Rheinhessens gab im übrigen Anlaß zu dem mittelalterlichen Sprichwort: „Hätt die Pfalz Heu und Holz, sie wär noch einmal so stolz“. Appenheims Mangel an Wald wurde in gewisser Weise durch den Reichtum an Wasser ausgeglichen; schon früh gab es hier fünf Mühlen, von denen eine am Wethbach, die anderen aber am Wehbach liegen.
Damit haben wir schon den befestigten Ort verlassen und befinden uns in der Gemarkung Appenheim, die ihren Umfang seit der Ortsgründung im frühen Mittelalter nie geändert hat. In der freien Flur gab es damals sicher mehr Wald, oder besser: Gehölz als heute, vor allem im Wethbachtal Richtung Aspisheim, aber auch zahlreiche Weiden am Wehbach. Am Rand der Äcker standen vielfach Obstbäume, die mit einigen Weinstöcken manchmal eine regelrechte „Mischkultur“ bildeten. Wesentlich geringer als heute waren die Weinbergsflächen, die- nach den ältesten Verzeichnissen – nur knapp ein Zehntel der bebauten Fläche ausmachten. Das übrige wurde meist als Ackerland genutzt, anscheinend noch sehr lange in Form der uralten Zweifelderwirtschaft, die nur einen jährlichen Wechsel zwischen Getreide und Brache kannte. Dennoch waren die Erträge offenbar recht hoch, denn Appenheim wird schon im Mittelalter als „gut angebauter Ort“ erwähnt.
Über Nutzung und Beschaffenheit der Appenheimer Gemarkung im Mittelalter geben uns auch die Flurnamen Auskunft. Sie sind in der damaligen Zeit entstanden und für Appenheim erstmals um 1300 nachweisbar. Nicht immer ist ihr Sinn einfach und eindeutig zu klären, zumal sie im Lauf der Jahrhunderte vielfach verändert und oft bloß nach den Regeln der Schriftsprache gedeutet wurden. Ganz klar sind natürlich Ortsbezeichnung wie „Engelstadter, Oberhilbersheimer, Ingelheimer“ oder „Mainzer Weg“. Der „Berger Weg“ führte nach Bergen, eine Siedlung anstelle des Laurenziberges, die bereits 767 erwähnt wurde, dann Pfarrort für Oberhilbersheim war, im Spätmittelalter an Bevölkerung abnahm und um 1500 aufgegeben wurde. Eine solche „Wüstung“ meint vermutlich auch der Appenheimer Flurname „Höningen“ in der Südwestecke der Gemarkung. Den Wasserreichtum des Ortes zeigen Bezeichnungen wie „Brühl“ (feuchtes, gutes Wiesenland in Dorfnähe), „Dünnbach“ (kein „dünnes“ Rinnsal, sondern wohl eine Verkürzung aus „Dimpel/Tümpel“, d.h. nasses, sumpfiges Land) und „Sother“, ein Ausdruck für sumpfige Stellen im Gelände; außerdem natürlich die zahlreichen „Borne“ (Eber-, Johann-, Rechen-, Scheiter-, Steck- und Rosselborn). Dieser letzte Flurname weist zudem auf Rossel, also loses Gestein bzw. Geröll hin. Mit der Bodenbeschaffenheit hängt auch die Bezeichnung „auf dem Klopp“ und „vor dem Klopp“ zusammen, denn „Klopp“ bedeutet soviel wie „Fels“, wonach z.B. auch die „Burg Klopp“ in Bingen benannt ist. Die Flurnamen „linke Klauer“ und „Rohrklauer“ weisen auf früher bestehende, kleine Gehölze hin, wobei der zweite eine Baum- oder Buschgruppe auf feuchtem Untergrund, vielleicht mit Schilfrohr durchsetzt, meint. Die Flur „Hinter Ellern“ ist nach einem Edengehölz benannt. Des öfteren beziehen sich die Flurnamen auch auf häufig vorkommende Tiere, so beim Appenheimer „Atzet=‘ bzw. „Hetzelberg“, der durch den heute noch gebräuchlichen Mundartausdruck für „Elster“ leicht zu erklären ist. „Daubhaus“ hat wohl etwas mit einem Taubenschlag oder -nest zu tun, und am „Eberborn“ tauchten vermutlich bisweilen Wildschweine auf. Die „Rabenschule“ deutet auf Krähenschwärme in dieser Flur hin; doch wird der Name manchmal auch als alte Gerichtsstätte mit Galgen gedeutet. Man sieht, wie unterschiedlich und schwierig die Deutung von Flurnamen sein kann. Das gilt z.B. auch für die Appenheimer „Fledermaus“, womit wohl kaum dasselbe Tier wie heute gemeint ist, denn das hieß früher hierzulande „Speckmaus“. Viel eher hat man an eine Wiese mit vielen Schmetterlingen zu denken, die in Rheinhessen auch „Fledermäuse“ genannt wurden. Vielfach lasen die Flurnamen auch Rückschlüsse auf eine ältere Nutzung zu, so die Bezeichnung ,Im Bangem“, die aus „Baumgarten“ entstand, also die Bebauung mit Obstbäumen weint (vgl. „Wingert“ und „Weingarten“). Vielleicht ist auch die „Dörrwiese“ nicht einfach ein (zu) trockenes Stück Land, sondern die Stelle, an der die Appenheimer im Mittelalter ihren Flachs, den sie zuvor in einzelnen Stengeln gewässert hatten, nun e rockneu („dörren“) ließen. Einfacher sind „Ernteweg“ und „Eselspfad“ zu deuten, denn auf ihnen wurde die Ernte ins Dorf bzw. das gedroschene Getreide von Eseln um Müller gebracht. Leicht verständlich ist auch die Bezeichnung „am Gemeindebirnbaum“; auf Land, das allen Bauern gemeinsam gehörte, weist zudem der Name auf dem Angel“ hin, womit der „Anger“ gemeint ist, also der Versammlungsund Festplatz einer mittelalterlichen Dorfgemeinde. „Im Kerner“ hängt mit dem erwähnen „Beinhaus“ zusammen, denn der Name ist von dem lateinischen Wort „carnarium“ (Fleischkammer) abgeleitet. Am „Steinern Kreuz“ stand wahrscheinlich einer der im Mittelalter so beliebten Bildstöcke, wie es sie noch heute in Süddeutschland („Marterl“) oft gibt. An einen früheren Besitzer erinnert der Name „Eidersberg“, wo schon 1347 Weingärten bezeugt werden; ebenso die „Hundert Morgen“ nach einer Urkunde von 1313 „den munichen“, also den Mönchen von Johannisberg gehörten. Die „Eidgewann“ wechselte – wie im Mittelalter vielfach üblich – wohl mit einem Schwur den Besitzer, und die Bezeichnung „Im Freitag“ könnte auf einen Bearbeitungs- oder Abgabetermin hinweisen.
Diese hier in Auswahl vorgestellten Flurnamen blieben über Jahrhunderte unverändert, wohl auch deshalb, weil sich die Besitz-und Lebensverhältnisse wenig wandelten. Denn im Mittelalter zeichneten sich Wirtschaft und Gesellschaft durch große Beständigkeit aus. Die seit der Karolingerzeit entstandene „Feudalgesellschaft“ wurde als ewig gültige, gottgewollte Ordnung hingenommen, selbst wenn man m ihr nur eine untergeordnete Rolle spielte. Überall herrschte die „Ständegesellschaft“, in der Ansehen und Einfluß durchweg nicht auf Leistung oder Besitz, sondern auf der „höheren“ oder „niederen“ Geburt des Einzelnen beruhten. Auch in unserem Dorf standen daher Adlige an der Spitze der Gesellschaft. Es waren die „Edelknechte von Apoenheim“, die erstmals 1295 erwähnt werden und bis ins 15. Jahrhundert in Dutzenden von rheinischen Urkunden vorkommen. Diese Ritter wohnten in einem stark befestigten Hof nahe der Pfarrkirche, hatten aber auch auswärts großen Landbesitz, z.B. in Dexheim, Schornsheim und Mauchenheim. Zudem übten sie hohe weltliche und geistliche Ämter aus, wie das eines Verwalters von Burg Klopp in Bingen oder von Domgeistlichen in Mainz und Worms. Das Wappen dieser Ritter ist wohl das Vorbild des heutigen Gemeindewappens, denn auf ihm sehen wir in rotem Feld einen silbernen bzw. weißen Schrägrechtsbalken, in dem sich drei rote Kugeln befinden. Wann diese Ritter von Appenheim ausgestorben sind, ist unklar, doch kommen sie als „reynländische“ Adlige noch in einem Wappenbuch des 17. Jahrhunderts vor. Die übrigen Bewohner des mittelalterlichen Appenheim waren-bis auf fünf Müller – alle Bauern und solche „niederen Standes“ bzw. „unfrei“, d.h. in irgendeiner Weise rechtlich und wirtschaftlich abhängig. Allerdings war kein Appenheimer der Leibeigenschaft unterworfen, die hierzulande ohnehin nur eine finanzielle Belastung durch Sondersteuern bei Heirat und Erbfall bzw. eine Beschränkung beim Wohnsitzwechsel war. Nach alten Quellen wurde Appenheim nämlich ausdrücklich als „von jeder Leibherrschaft“ ausgenommen und als „freyzügicht“ anerkannt. Dagegen lebten fast alle Einwohner unseres Dorfes unter der Grundherrschaft. Das war die im mittelalterlichen Westdeutschland übliche Form des Besitzes und der Bewirtschaftung des nutzbaren Landes: Die „Grundherren“ (Freie, Adlige, Fürsten und Geistliche) als die eigentlichen Grundbesitzer bewirtschafteten ihre lecker und Wingerte nicht (mehr) selbst, sondern hatten ihre Ländereien in einzelnen „Hufen“ an die „Hübner“ ausgeliehen, und zwar gegen bestimmte Auflagen. Diese bestanden zum einen in der Lieferung von Naturalien, einer bestimmten Menge Wein, Getreide, Obst oder Tieren„ zum anderen in „Frondiensten“, d.h. in unentgeltlichen Arbeitsleistungen (meist Transporte) des Bauern für seinen Herrn. Abgaben und Frondienste mußten zu bestimmten Festtagen – wie Martini, Weihnachten, Fastnacht oder Ostern – geleistet werden. Die Grundherren lebten von diesen Lieferungen und Arbeiten ihrer „Grundholde“.
Diese waren dadurch ständig belastet, wurden aber durchweg nicht ausgebeutet, weil es den Grundherren weniger auf Profit als auf eine bequeme Lebensgrundlage ankam.
Freilich war von den ursprünglichen Gegenleistungen des Grundherrn (militärfacher und rechtlicher Beistand) im Spätmittelalter nicht mehr viel übrig. So war die Grundherrschaft auch in Appenheim damals mehr ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis der Bauern zu einem geistlichen oder weltlichen Grundbesitzer. Neben auswärtigen Adligen – wie z.B. Werner von Bolanden – waren vor allem kirchliche Institute Grundherren in Appenheim. So die Kanoniker des Mainzer Stephansstiftes, mit denen unsere Gemeinde 1368 eine große Auseinandersetzung um die den Geistlichen zustehenden Abgaben an Korn und Wein hatten. Grundbesitz mit entsprechenden Rechten hatten in Appenheim außerdem das Mainzer Domstift sowie die Klöster Eberbach, Johannisberg, Jakobsberg und Rupertsberg. Allein diese Binger Abtei besaß über 200 Morgen Land, meist ocker und Weinberge; ja, man kann annehmen, daß im Spätmittelalter mehr als die Hälfte der Appenheimer Gemarkung sich im Besitz der Kirche befand.
Trotzdem hatten nicht die Stifter und Klöster, sondern die Pfalzgrafen das letzte Wort im mittelalterlichen Appenheim, denn sie besaßen – vermutlich schon seit 1156 – die Ortsherrschaft. Sie bestand vor allem in der „hohen“ Gerichtsbarkeit, d.h. in der Befugnis, schwere Vergehen wie Mord, Raub und Vergewaltigung zu bestrafen. Für die Rechtspflege und militärischen Schutz standen dem Ortsherrn verschiedene Abgaben zu, voran die „Beede“ (eine Kopfsteuer), dann auch die „Atzung“ für die Beamten, später noch die nach Wert und Umfang der jeweiligen Güter berechnete .,Schatzung“. All das wurde meist in Naturalien nach Stromberg geliefert; so hatten die Appenheimer gegen Ende des Mittelalters 29 Malter Korn und – entsprechend der Zahl ihrer „Herdstätten“ – 54 (lebende) „Fastnachtshühner“ dem Oberamtmann zu bringen. Örtlicher Vertreter des Orts- bzw. Landesherrn war der von Stromberg eingesetzte Schultheiß, der in Appenheim schon für 1368 nachzuweisen ist. In derselben Urkunde ist vom „Gericht“ des Ortes die Rede; es bestand meist aus fünf Schöffen, zu denen die Gemeinde wohl ein Vorschlagsrecht hatte. Ein Rest selbständiger Ortsverwaltung waren die beiden „Bürgermeister“ -in Appenheim auch „Vorsteher“ ,mannt- die zwar nur Gemeinderechner waren, dafür aber von den Bauern gewählt wurden. Auch sie gehörten zum „Ortsgericht“, das-wie in Aspisheim und Niederhilbersheim – zunächst unter freiem Himmel vor der Pfarrkirche tagte. Im 16. Jahrhundert entschlossen sich die Appenheimer jedoch, für ihre Gemeindeversammlungen und Gerichtssitzungen ein Rathaus zu bauen. Das hatte gewiß nicht nur praktische Gründe, sondern war-wie in den Nachbargemeinden- Ausdruck eines gestiegenen Selbstbewußtseins. Denn mit dem unten in massiven Steinen, im ersten Stock in schmuckem Fachwerk errichteten Bau erhielt Appenheim eine fast städtische kote, zumal das Rathaus bewußt in den Schnittpunkt der beiden Straßen gestellt worden war. Das Gebäude beherbergte jedoch nicht nur Räume für Gericht und Ortsvorstand, sondern auch das Gefängnis und die Schule – kurz alles, was damals die örtliche Verwaltung in einem „Staat“ wie der Kurpfalz brauchen konnte.
Die Appenheimer waren aber nicht nur dem Landes- bzw. Ortsherrn und verschiedenen Grundherren verpflichtet, sondern mindestens ebenso den Zehntherren. Die Einrichtung des Zehnten stammte aus der Zeit Karls des Großen und diente ursprünglich i er Besoldung der Pfarrer; nach biblischem Vorbild sollten 10 Prozent von jeder Ernte an den Geistlichen abgegeben werden. Seit dem Hochmittelalter kam diese Abgabe aber nicht mehr den Seelsorgern selbst zugute, sondern jenen Adligen, Fürsten oder Klöstern, die nun als „Patronatsherren“ und „Kollatoren“ (zu beiden siehe unten) die Pfarrer einsetzten und als „Decimatoren“ (Zehntherren) den Zehnten weiterleiteten, natürlich nicht, ohne für sich etwas davon zurückzuhalten. Außerdem gab es inzwischen eine Vielzahl von Früchten, die zu einem Zehntel abgeliefert werden mußten: Neben dem „Wein-Zehnten“ mußte der „Große Zehnt“ von jeder Art von Getreide, aber auch von Feldfrüchten wie Linsen, Bohnen oder Rüben gegeben werden. Der „Kleine Zehnt“ bestand aus Abgaben an Obst, Gemüse und Haustieren (meist Hühnern). Gesammelt wurden all diese Naturalien in einer „Zehntscheuer“, von wo sie zu den Gütern des Zehntherrn gebracht wurden. In Appenheim war die spätere Knewitz’sche Mühle die mittelalterliche Zehntscheuer. Feststellbare Appenheimer Zehntherren waren die Hunsrücker Adelsfamilien von Ottenstein, Klingelbach, Koppenstein und Oberstein, die „Knebel von Katzenellnbogen“ aus dem Taunus, schließlich die Rheingauer Freiherren von Greiffenclau zu Vollrads.
Die vielfachen Bindungen, in denen die Appenheimer gegen Ende des Mittelalters standen, sieht man recht gut am „Gerichtsweistum“ unseres Ortes, das zwar erst aus dem Jahre 1589 überliefert ist, das aber wesentlich ältere Zustände festhält, zumal es noch ganz in mittelalterlicher Weise formuliert ist:
„Erstlich erkennen wir Gott den Herrn für den obersten aller Herren. Zum anderen weisen wir hier vor den obersten Herrn über Hals und Bein zu richten den durchlauchtigsten hochgeborenen Fürsten und Herrn, Herzog Friedrich und unseres gnädigen Herren Söhne, Herzöge in Bayern, Pfalzgrafen bei Rhein; zum dritten weisen wir zu unserem gnädigen Fürsten und Herren Wasser und Weide, Weg und Steeg, Fron, Atzung, Beede und Steuerjagd und Hegen, Bruch und Frevel und dergleichen, was von Nöten zu dienen nach Ausweisung unseres Gerichtsbuches hierselbsten geboten und verboten. Soviel den Kornzehnten anlangt, so hat erstlich der Junker zu Coppenstein den 5ten Teil, danach der Junker Rudolf von Oberstein den 2ten Haufen, letztlich unser Pfarrherr 1 Teil. Den Weinzehnten anlangend, haben die von Coppenstein den fiten Teil und von Oberstein 2 Teile. Was die Gültkorn anlangt, haben erstlich unsere gnädigsten Herren 29 Malter Korn Binger Maßung, die von Sportheim 8 Malten aber weiter mit keiner Ungnade und Beschwernis behaftet. Das Domstift zu Mainz hat jährlich noch 8 Malter Korn. Hier hat es 5 Mühlen; die Rheingrafen haben davon den Nutzen, die Herrschaft nichts.“
Wie man sieht, hatte Kurpfalz keineswegs die meisten Rechte in Appenheim; auch in unserem Dorf war der „Staat“ im Mittelalter noch nicht in alle Lebensbereiche und bis zu jedem Einwohner gedrungen. Zwischen Fürst und Untertanen schoben sich noch andere Herren, deren Rechte das Leben der Bauern oft mehr bestimmten. So waren es diese Verpflichtungen sowie die Mühsal von Acker- und Weinbau, die den Alltag der Appenheimer wesentlich bestimmten.
Am größten aber war auch hier der Einfluß der Religion, umfaßte sie doch das ganze Leben des mittelalterlichen Menschen. Gute oder schlechte Ernten, Seuchen bei Mensch und Vieh, Regen, Sonnenschein oder Hagelschlag, ja Glück und Unglück überhaupt – alles wurde als Gnade oder Strafe Gottes angesehen. Geburt, Heirat und Tod erlebte man auf dem Lande nicht nur sehr unmittelbar, sie galten auch als Stationen eines von Gott vorgezeichneten Lebensweges. Deshalb stand die Kirche als Vermittlerin des göttlichen Willens im Mittelpunkt des Lebens, und das Gotteshaus war das wichtigste Gebäude im Dorf.
Auch in Appenheim, wo 1338 erstmals von einer Pfarrkirche gesprochen wird. Natürlich war die Pfarrei ebenfalls älter als ihre erste urkundliche Erwähnung: Denn wie ganz Rheinhessen wird auch Appenheim spätestens nach Abschluß der Fränkischen Landnahme christlich geworden sein, zumal sich die Frankenkönige seit Chlodwig zum Christentum bekannten. Vielleicht gab es hier sogar Reste christlicher Kultur aus den letzten Jahren der Römerherrschaft. In der Karolingerzeit standen im nördlichen Rheinhessen schon etliche Dorfkirchen, die freilich nicht vom Bischof, sondern meist vom Adel besetzt wurden, und die den typisch fränkischen Heiligen-wie Martin und Remigius – geweiht waren. Appenheim hat aber ein anderes „Patrozinium“, denn seine Pfarrkirche war vermutlich nach dem Heiligen Michael benannt. Zwar fehlen dafür exakte urkundliche Belege, doch deuten der Termin der alten Appenheimer Kirchweih (1. Sonntag nach Michaelis) sowie die Errichtung der katholischen Michaelskirche im 18. Jahrhundert darauf hin, daß unsere Pfarrkirche unter den Schutz des Erzengels gestellt worden war. Ein solches Michaelspatrozinium würde jedenfalls auf ein hohes Alter der Kirche, vielleicht auf eine Gründung vor der Karolingerzeit, hinweisen. Wie dem auch sei, im Hochmittelalter gab es in Appenheim eine offenbar ziemlich große Kirche mit einem Turm über dem Chor, einem nahegelegenen „Kerner“ (Beinhaus), der wohl dem Hl. Michael geweiht war, sowie dem Pfarrhaus und zwei eigenen „Altaristenhäusern“. Deren Bewohner waren Priester, die gegen fromme Spenden Messen an den Altären der Pfarrkirche lasen. Die Appenheimer Kirche hatte immerhin drei Altäre: einen, der dem Heiligen Michael geweiht war, sowie einen Marien- und einen Nikolausaltar. Für die Bewohner des Dorfes waren das Orte, wo sie ihre konkreten Anliegen im Gebet vorbringen konnten. So galt St. Michael als Fürsprecher der Toten und als Beschützer in Gewitter, Hagel und Krieg. Dem Heiligen Nikolaus brachten besonders die Kinder, Armen und Müller ihre Sorgen vor, und die Jungfrau Maria galt als Mutter Christi allen Gläubigen als die große Vermittlerin bei Gott. Vielleicht stand auf ihrem Appenheimer Altar jene Marienfigur mit dem gekreuzigten Christus, die 1909 auf dem Kirchenspeicher gefunden und ins Mainzer Dommuseum gebracht wurde. Wie die Appenheimer Kirche im übrigen aussah, wissen wir nicht, denn ihr Inneres wurde in der Reformationszeit ganz verändert.
Dagegen sind wir recht gut über die rechtliche Stellung der Pfarrei Appenheim im Mittelalter unterrichtet. Anders als in Oberhilbersheim umfaßte die Pfarrei Appenheim nur unseren Ort, was auf seine Größe und Bedeutung schließen läßt. 1338 und 1368 wird ein „Plebanus“, also Pfarrer von Appenheim erwähnt, 1424 werden zwei Appenheimer Kapläne wegen rückständiger Gebühren gemahnt. Die Pfarrei gehörte – wie es in einer Urkunde heißt – „zum Mentzer Bischtum“, lag also in der Diözese des Erzbischofs, die damals vom Hunsrück bis nach Thüringen reichte. Allerdings kam der Appenheimer Pfarrer kaum mit dem Mainzer Oberhirten in Berührung, der ohnehin viel zu sehr mit der großen Politik befaßt war. Zuständig für die Pfarrseelsorge waren nämlich die „Archidiakone“, hochgestellte Priester der Bischofsstadt, denen bestimmte Landbezirke zur kirchlichen Verwaltung und Aufsicht zugeteilt wurden. Appenheim gehörte im Mittelalter zum „Archidiakonat“ des Propstes von Heiligkreuz in Mainz, dessen Bezirk als „Partenheimer Landkapitel“ mit 42 Pfarreien fast das ganze nördliche Rheinhessen umfaßte. Während der Propst in Oberhilbersheim und dem untergegangenen Bergen auch viel Grundbesitz hatte, konnte er in Appenheim nur geistliche Rechte wahrnehmen. Sie bestanden in der Gerichtsbarkeit über die Priester, über Ehesachen und kleinere weltliche Streitigkeiten (z.B. um Wucherpreise und Zehnten), vor allem aber im Recht auf Einsetzung des Pfarrers. Die wiederum konnte der Archidiakon nicht allein vornehmen; denn er durfte nur solche Leute einsetzen, die ihm zuvor von den „Patronats=‘ oder „Zehntherren“ (siehe oben) vorgeschlagen worden waren. Diesem „Praesentationsrecht“ der „Decimatoren“ entsprach andererseits die Verpflichtung, den Pfarrer und seine Kirche zu besolden und zu versorgen, eine Aufgabe, die allerdings manche Appenheimer Patronatsherren nicht oder nur zögernd erfüllten. Waren sich Patronatsherr und Archidiakon über die Person des Pfarrers einig, dann erhielt dieser vom Erzbischof die Bestätigung, die sog. „Kommende“ bzw. die „cura animarum“, also die Sorge für die Seelen.
Dieses „Seelenheil“ war sicher auch das Lebensziel der meisten Appenheimer im Mittelalter. Mochten sie manchmal über den Zehnten stöhnen oder den Reichtum einzelner „Pfaffen“ kritisieren, im Grunde achteten sie ihren Pfarrer doch sehr, zumal er als Vermittler göttlicher Gnade galt. Die Kirche war eben überall im Leben gegenwärtig: Sie bestimmte mit ihren Geboten und Verboten die Moral, sie gliederte durch ihre zahlreichen Feste und Feiertage das bäuerliche Arbeitsjahr und gab ihm Ruhepunkte; sie kam mit ihrer prunkvollen Liturgie dem Anschauungsbedürfnis des Mittelalters und der Landleute entgegen. Schließlich gab es den riesigen Grundbesitz der großen Stifter und Klöster, denen fast jeder Appenheimer Bauer Wein, Getreide, Obst oder Tiere zu liefern hatte. Geistliches und Weltliches waren einfach nicht zu trennen.
Appenheim im Mittelalter: Das Leben in einem solchen Dorf war gewiß keine Idylle, sondern bedeutete für die meisten Bauern harte Arbeit, Kampf gegen die unberechenbare Natur und Belastungen durch die Grundherren, die selbst von jeder Steuer befreit waren. Allerdings kann man nicht pauschal von „Elend“ und „Unterdrückung“ des mittelalterlichen Landvolkes sprechen, zumal der Boden- wie z.B. in Appenheim – oft gute Erträge in Acker- und Weinbau lieferte. Auch wurde gerade Appenheim wegen seiner Lage abseits der großen Verkehrswege von großen Seuchen wie der Pest von 1348 – oder den dauernden Kriegen nur wenig berührt. Es war ein Dorf, in dem Enge und Einheit des mittelalterlichen Lebens lange erhalten blieben.
Verfasser: Dr. Franz Dumont aus Mainz Beitrag von 1983
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